Gesellschafts-Indikatorforschung MARKET & LAZARSFELD

09.07.2020

Die Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) – ein Vermächtnis Heinz Kienzls

 

Lazarsfeld und Kienzl

Die Gründung der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) im Jahr 1979 geht auf die Initiative von Dr. Heinz Kienzl (1922-2020) zurück.

Kienzl hatte das Bedürfnis, seinen verstorbenen persönlichen Freund Paul Lazarsfeld durch eine soziologische Gesellschaft zu ehren, die das Werk des Jahrhundertforschers in Wien fortsetzt.

Lazarsfelds Lebensmittelpunkt lag nach seiner Emigration in den USA. Nach dem Krieg kam er aber immer wieder für verschiedene Angelegenheiten nach Europa, so hatte er zeitweilig eine Gastprofessur an der Pariser Sorbonne inne. Auch nach Wien kam er oft auf Besuch, teils aus Verbundenheit zur alten Heimat, teils zur Mitgestaltung wissenschaftlicher Institutionen, die ihm am Herzen lagen. Er gehörte z.B. neben Oskar Morgenstern zu jenen Emigrantenpersönlichkeiten, die sich in die Gründung des „Instituts für Höhere Studien“ (IHS) einbrachten. Heinz Kienzl holte ihn bei diesen Gelegenheiten vom Flughafen ab und zwischen den persönlichen Freunden entstand ein angeregter wissenschaftlicher Gedankenaustausch.

Heinz Kienzl starb im Alter von 97 Jahren nach einem Sturz in seinem Haus in Wien-Hietzing am 29. Jänner 2020. Seine Leistungen für die Republik als Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und als Generaldirektor und später Vizepräsident der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) sind enorm und prägend. Kienzl wird zutreffend als „Vordenker der Sozialpartnerschaft“, „Verfechter der Hartwährungspolitik“ (Frey 2020) und „Europäer der ersten Stunde“ (Zöllner 2012) bezeichnet.

Zum „Wegbereiter der Sozialwissenschaften in Österreich“ (Frey 2020) wurde er unter anderem durch besagte Gründung der Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG), aber auch dadurch, dass er viele wissenschaftliche Impulse, die er in den Gesprächen mit seinem Freund Paul Lazarsfeld erfuhr, aufnahm und in Österreich einführte.

 

Paul Lazarsfeld Gesellschaft 1979-2018

Kienzls wissenschaftliches Team der Lazarsfeld gewidmeten Forschungsgesellschaft musste sich durch wissenschaftliche Projektaufträge finanzieren. In der dadurch resultierenden Projektorientierung und manchmal auch Prekarität ähnelte die Situation der PLG durchaus jener, die auch Lazarsfeld für seine Forschung vorfand, der oft die feste institutionelle und finanzielle Fundierung mangelte. Klaus Allerbeck, Professor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, beschreibt die Situation so:

„…denn Lazarsfeld musste ohne all diese Dinge auskommen, Organisation ad hoc schaffen, fast jedes Projekt mit dem anschließenden finanzieren und zugleich fast vorspiegeln, auf gesicherter institutioneller Grundlage zu stehen“ (Allerbeck 2007, 16).

Selbstredend konnte die „alte“ Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) ihre Themen nicht immer völlig frei wählen, sondern musste sich manchmal nach der „Decke strecken“. Dennoch war es ihr über fast vier Jahrzehnte möglich, relevante Fragen sozialwissenschaftlich in Projekten zu bearbeiten und dabei oftmals eine wissenschaftliche Pionierrolle in Österreich einzunehmen.

Zwei Beispiele, die auf Ideen Heinz Kienzls zurückgehen, erscheinen dabei besonders beachtenswert und verdienstvoll: Eine Studie im Auftrag der Oesterreichischen Nationalbank unter Leitung des mittlerweile verstorbenen Botschafters Dr. Albert Rohan, in welcher ein Vergleich von „Korruption“ aufgrund von empirischen Daten aus ganz Mittel- und Osteuropa stattfand, wurde in ganz Österreich medial stark beachtet. Innovativ war auch die Umsetzung eines „Pflegemonitorings“ gemeinsam mit dem Sozialministerium, in dem in Umfragen die Zufriedenheit mit Pflegeleistungen im ganzen Bundesgebiet untersucht wurde. Ein Blick auf die aktuelle politische Diskussion, in der „Korruption“ und „Pflege“ eine prominente Rolle spielen, zeigt, dass die PLG schon sehr frühzeitig in der Lage war, relevante Themen zu identifizieren.

Keine extern finanzierte Forschungsgesellschaft kann fast vierzig Jahre lang Bestand haben, wenn sie nicht beachtliche Ergebnisse liefert. Dennoch wurde die „alte“ Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) im August 2018 durch eine freiwillige Vereinsauflösung beendet, ihren vierzigsten Geburtstag erlebte die Organisation knapp nicht. Die Gründe dafür waren einerseits persönliche Entscheidungen langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sinne einer beruflichen Umorientierung und andererseits die immer schwierigeren Aussichten für projektfinanzierte Forschungsgesellschaften. Die Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) hat die österreichische Forschungslandschaft von 1979 bis 2018 geprägt und kann auf das Erreichte stolz sein.

 

Paul Lazarsfeld Gesellschaft – Neugründung 2019

Dass Wien als wichtige frühe Wirkungsstätte Lazarsfelds nunmehr keine der Pflege und Fortführung seines Werkes gewidmete soziologische Gesellschaft mehr haben sollte, wurde von vielen Sozialforschern als Defizit erlebt. Einer davon war Prof. Dr. Werner Beutelmeyer, der mit dem Linzer Institut „market“ eines der wichtigsten Markt- und Meinungsforschungsinstitute des Landes aufgebaut hat und ein Verehrer Paul Lazarsfelds sowie Freund und Weggefährte Heinz Kienzls ist. Auf seine Initiative hin erfolgte die Neugründung der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) im Februar 2019. Unterstützung fand er durch Dr. Patrick Horvath, Sozialwissenschafter und Absolvent der Diplomatischen Akademie Wien, der mehr als 13 Jahre lang ein enger Mitarbeiter Heinz Kienzls war. Im Juli 2019 fand die erste Generalversammlung im oberösterreichischen Großraming statt, wo Beutelmeyer und Horvath zum Obmann bzw. Direktor der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) gewählt wurden und seitdem ein handlungsfähiger Vorstand im Amt ist.

Juristisch gesehen stellt die „neue“ PLG, die ihren Sitz ebenfalls in Wien hat, einen Neuanfang gegenüber der „alten“ dar und auch personell wird auf ein neues wissenschaftliches Team gesetzt. Inhaltlich gibt es sowohl Anknüpfungen, als auch Neuerungen.

Der Gründer der Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) im Jahre 1979 Dr. Heinz Kienzl hat die Neugründung der Paul Lazarsfeld Gesellschaft durch zwei seiner engen Mitstreiter noch miterlebt, hat sie befürwortet und unterstützt und konnte als erster Ehrenpräsident gewonnen werden. Durch seine seinerzeitge Freundschaft mit Paul Lazarsfeld stellte er in der Neugründungsphase die „Brücke“ der PLG zum Jahrhundertforscher her.

Paul Lazarsfelds und Heinz Kienzls Vermächtnis sollen und werden weiterleben.

 

Literatur und Quellen:

Eric Frey (2020) Heinz Kienzl, Architekt von Österreichs Wirtschaftspolitik, gestorben, verfügbar unter: https://www.derstandard.at/story/2000113925074/heinz-kienzl-architekt-von-oesterreichs-wirtschaftspolitik-gestorben, 8.7.2020.

Allerbeck, Klaus (2007) Paul F. Lazarsfeld. In: Kaesler, Dirk (Hg.) Klassiker der Soziologie 2. Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. Nördlingen, 7-23.

Peter Zöllner (2012) 90 Jahre Heinz Kienzl – Europäer, Gestalter, Forscher und Mensch. In: Horvath, Patrick et al. (Hrsg.) Die „Vision Zentraleuropa“ im 21. Jahrhundert. Festschrift zum 90. Geburtstag von Heinz Kienzl. Wien, 190-193.

Wo nicht anders zitiert: Persönliche Gespräche mit Dr. Heinz Kienzl im Laufe des Juli 2019

 

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Wien, im Juli 2020

Rückfragen: Dr. Patrick Horvath, Mobil 0650/7330140, office@wiwipol.at

Mission Statement der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG)

Der Zweck der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) besteht darin, an das Jahrhundertwerk des namensgebenden großen Soziologen in seiner alten Heimat und frühen Stätte seines Wirkens Wien zu erinnern, durch eigenständige Forschungsprojekte fortzusetzen und zudem durch aktive Öffentlichkeitsarbeit gesellschaftliche Entwicklungen im Sinne des zentralen Wertes „soziale Verantwortung“ zu beeinflussen.

 

Kooperationspartner

Kooperationspartner für dieses ambitionierte Programm sind im Grunde alle Menschen, die diese Ziele teilen, besonders aber „Elder Statesmen“ – aufgrund ihrer Erfahrung im Bereich sozialer Verantwortung, verbunden mit der Möglichkeit sich ohne den Druck von Ämtern frei zu artikulieren. Partnerschaften mit Universitäten, Fachhochschulen und andere wissenschaftliche Einrichtungen wie Archiven und Museen werden angesrebt.

Der in den Statuten der Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) vorgesehene wissenschaftliche Beirat soll ein lebendiges Gremium sein und Ausgangspunkt von vielfältigen Beratschlagungen, Impulsen und Feedbacks. Die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates sind (Stand Juli 2020): Herr Univ.-Prof.Dr. Heinrich Neisser, Frau Generaldirektorin a.D. Dr. Edith Kitzmantel, Herr Univ.-Prof. Dr. Gerhard Wührer. Erweiterungen sind geplant.

Für die Kooperation mit privater Markt- und Meinungsforschung will sich die PLG im Sinne von Paul Lazarsfeld ausdrücklich öffnen. Klaus Allerbeck, Professor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main meint dazu:

„Lazarsfeld lehnt eine scharfe Trennung zwischen ‚akademischen‘ und ‚kommerziellen‘ Fragestellungen ab und befürwortet die wechselseitige Befruchtung von akademischer Sozialforschung und kommerzieller Marktforschung, womit er sein akademisches Publikum nicht selten erschreckte…“ (Allerbeck 2007, 15).

 

Relevanz

Bereits die „alte“ Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) (1979-2018) hat wichtige Themen der Zeit wie „Korruption“ und „Pflege“ identifiziert und sie in sozialwissenschaftlichen Projekte bearbeitet.

Dieses Bekenntnis zur inhaltlichen Relevanz der Forschungsarbeit soll in der „neuen“ PLG unbedingt Fortsetzung finden.

 

Themenschwerpunkte – drei Dimensionen

Die Neu- bzw. Wiederbegründung der Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) im Februar 2019 soll darüber hinaus zum Anlass genommen werden, die bisherigen Aufgaben ihrer Arbeit um drei neue Dimensionen zu erweitern.

 

Diese sind:

* Die historisch-biographische Dimension.

Historische, biographische Forschung rund um Paul Lazarsfelds Leben und Werk wird zu einer Aufgabe der Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG), weil sie so das Andenken ihres „Heros“ pflegen kann.

Dies kann ausgedehnt werden auf Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, die mit Lazarsfeld persönlich oder inhaltlich in Verbindung standen. Dabei wird besonders auch das Andenken des Gründers der Paul Lazarsfeld Gesellschaft Heinz Kienzl (1922-2020) gewahrt.

Themen mit Bezug auf Wien sollen zur guten Nutzung des Standortes zwar nicht ausschließlich, aber prioritär bearbeitet werden. Die Rezeptionsgeschichte von Lazarsfelds Werk interessiert ebenfalls, vor allem wenn sie noch wenig erforscht ist (z.B. Wirkung auf Asien). Besonders gute wissenschaftliche Ergebnisse sind von der Befragung noch lebender Zeitzeugen zu erwarten („oral history“).

 

* Die methodisch-innovative Dimension.

Lazarsfeld war zeitlebens ein großer Innovator der sozialwissenschaftlichen Methodik und dies erscheint ein fortsetzungswürdiger Aspekt seines Werkes. Von der Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) wird daher die Entwicklung eines eigenen innovativen empirischen Programmes der Sozialforschung angestrebt.

Ein erster Schritt dazu ist die bereits erfolgte Initiierung der „Gesellschaftsindikatorforschung 2020“ in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut „market“. Wöchentlich werden mit einer Stichprobe von n=1.000 aktuellste Daten zu Politik, Vertrauenswerten von Institutionen und Wirtschaftsindikatoren erhoben und so die Gesellschaft auf ihre Chancen und Probleme in einer gegenwärtig in Österreich einzigartigen Form durchleuchtet.

Zusätzlich will die Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) durch Studien- und Buchpräsentationen, Vortragsveranstaltungen und wissenschaftliche Konferenzen eine öffentliche Plattform auch für andere Forscher anbieten, die innovative sozialwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse erzielen konnten.

 

* Die gesellschaftlich-verantwortliche Dimension.

Die Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) definiert sich als parteiunabhängig, nicht aber als wertneutral.

Paul Lazarsfeld hat Sozialforschung mit der Motivation betrieben hat, die Gesellschaft positiv zu gestalten. Wenn man die Ergebnisse seiner Forschung kennt und verinnerlicht, kann man nicht „indifferent“ in Bezug auf bestimmte gesellschaftspolitische Werte sein.

Dazu drei konkrete Gedanken:

Erstens: Lazarsfeld war jüdischer Herkunft und entschloss sich zur Emigration aus seiner alten Heimat vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit. Es wäre schwer glaublich, dass Lazarsfeld bei dieser persönlichen Erfahrung dem heutigen Wiederanstieg des Antisemitismus in Europa gleichgültig gegenüberstehen würde.

Zweitens: Wie kaum ein anderes Werk zeigt die Marienthal-Studie auf, welch desaströse und zersetzende Folgen Arbeitslosigkeit auf die Psyche der Menschen und die Strukturen der Gesellschaft hat. Wenn heute in manchen Staaten der Europäischen Union Jugendarbeitslosigkeit von um die 50% grassiert, würde Lazarsfeld dies wohl nicht unkommentiert stehen lassen. Die Forderung nach wirtschaftspolitischer Priorität der Vollbeschäftigung – auch möglicherweise unter Rückstellung anderer Prioritäten – ergibt sich fast zwingend aus Lazarsfeld Werk.

Drittens: In seiner neuen Heimat USA hat Lazarsfeld in einer großangelegten Studie („The Academic Mind“ von 1955) den negativen Einfluss der aufgeladenen Stimmung der McCarthy-Ära auf das universitäre Bildungssystem aufzuzeigen versucht. Was würde er heute zur Verrohung der Sprache auf sozialen Medien wie Facebook & Co. sagen? Man kann davon ausgehen, dass Lazarsfeld Radikalismen im Diskurs, seien sie rechtsextremer oder auch radikal-islamistischer Art, gewiss ablehnen würde.

Der Lazarsfelds Denken angemessene zentrale Wert zur Gestaltung der Gesellschaft lässt sich in unserer Sicht mit dem Begriff „soziale Verantwortung“ besonders gut beschreiben. Im Sinne dieses Wertes sollen gesellschaftliche Strukturen weiterentwickelt werden.

Die Paul Lazarsfeld Gesellschaft (PLG) will zu diesem Zweck einen eigenen „Paul Lazarsfeld Award für soziale Verantwortung“ ins Leben rufen und Unternehmen und Organisationen dadurch motivieren, in ihrem Umfeld arbeitsnehmerorientiert und ethisch zu handeln. Dieses Projekt ist noch in Entwicklung und wird frühestens 2021 starten.

 

Literatur und Quellen:

Allerbeck, Klaus (2007) Paul F. Lazarsfeld. In: Kaesler, Dirk (Hg.) Klassiker der Soziologie 2. Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. Nördlingen, 7-23.

Protokoll der 1.Generalversammlung der Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung am 4.7.2019 (unveröffentlicht)

 

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Wien, im Juli 2020

Rückfragen: Dr. Patrick Horvath, Mobil 0650/7330140, office@wiwipol.at

Paul F. Lazarsfelds „Wiener Jahre“

Paul Felix Lazarsfeld ist der Begründer der modernen Sozialforschung (Allerbeck 2007, 7).

Der große Sozialwissenschafter wurde 1901 in Wien geboren und promovierte 1924 zum Dr.phil. der Mathematik an der Universität Wien mit der Arbeit „Über die Berechnung der Perihelbewegung des Merkur aus der Einsteinschen Gravitationstheorie“. 1935, noch vor dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland, entschloss er sich zur Emigration in die USA, deren universitäre Institutionen er zuvor durch ein zweijähriges Stipendium der Rockefeller Foundation bereits kennenlernen konnte.

Lazarsfelds wissenschaftliches Wirken zerfällt entsprechend in zwei Phasen unterschiedlicher Dauer vor und nach seiner Emigration. In Wien arbeitete er für acht Jahre als Assistent von Karl und Charlotte Bühler am Psychologischen Institut der Universität Wien, wo er die „Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“ gründete. Nach der Emigration lag sein Lebensmittelpunkt bis zu seinem Tod 1976 in den USA, wo er 37 Jahre lang Professor an der Columbia University war. Auch dort gründete er eine innovative Institution mit der er seine Forschung vorantrieb, das „Bureau for Applied Social Research“.

Es gibt Forscher, welche die amerikanische Zeit Lazarsfelds als die bedeutsamere der beiden Phasen für sein Werk einstufen. Tatsächlich bildete sich erst in den USA Lazarsfelds spezifischer Arbeitsstil heraus (Allerbeck 2007, 9) und in den USA verfasste er bedeutende Studien, allen voran „The People’s Choice“. In dieser Arbeit entwickelt er die Sichtweise, dass das Wahlverhalten weitgehend aus sozioökonomischen Faktoren vorherbestimmt sei und entwirft zudem einen theoretischen Ansatz rund um „opinion leaders“. Diese kommunikativ besonders einflussreichen Mitglieder ihrer Gemeinde wären der Wirkung der Medien auf die Wähler quasi „zwischengeschaltet“ und erzeugen so einen „Two Step Flow“ der Kommunikation (Deil 2011). Mit „The People’s Choice“ als einer umfangreichen und aufwändigen empirischen Untersuchung der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl 1940 im Bezirk Erie County des Bundesstaates Ohio hat Lazarsfeld „die Wahlforschung auf Jahrzehnte geprägt“ (Pelinka 2016, 159). Ohne seine Verbindung zu den USA wäre diese Arbeit wohl so nicht möglich gewesen.

Dennoch gibt es triftige Gründe, die Bedeutung von Lazarsfelds „Wiener Jahren“ ebenfalls ganz besonders hervorheben. Wien nimmt in Lazarsfelds Leben und Werk nämlich einen noch wichtigeren Platz ein als „nur“ den der Stätte seiner Geburt, Kindheit und Jugend, universitärer Ausbildung, erster Berufserfahrung und Publikationstätigkeit (darunter ein Lehrbuch für Statistik für seine Studenten und eine scharfsinnige Studie mit dem Titel „Jugend und Beruf“). Aus den „Wiener Jahren“ stammen aber vielmehr und vor allem zwei bahnbrechende Studien Lazarsfelds, die aufgrund ihrer Pionierarbeit Wissenschaftsgeschichte geschrieben haben. Dabei handelt es sich erstens um die „Hörerbefragung der RAVAG“ bzw. RAVAG-Studie von 1932 und zweitens um das – gemeinsam mit Marie Jahoda und Hans Zeisel durchgeführte – Forschungsprojekt „Die Arbeitslosen von Marienthal“ bzw. Marienthal-Studie von 1933.

Die Radio-Verkehrs-AG (RAVAG) war die Vorläuferorganisation des Österreichischen Rundfunks (ORF) in der Ersten Republik. Sie wurde 1924 als Monopol-Rundfunk unter Beteiligung des Bundes, der Gemeinde Wien, Banken und privater Medienbetriebe gegründet. Im Auftrag der RAVAG führte Lazarsfeld eine Untersuchung durch, in der er mit sozialwissenschaftlichen Methoden das Nutzungsverhalten und die Programmwünsche der Mediennutzer erforschte. Hauptergebnis war der – korrespondierend zur schwierigen Situation der Zwischenkriegszeit – ausgeprägte Wunsch des Publikums nach „leichter Musik“ und ihre zeitliche Vorverlegung im Programm, damit Berufstätige sie trotz früher Schlafenszeiten noch hören und genießen konnten. Die RAVAG-Studie war die weltweit erste ihrer Art und markiert die „Geburtsstunde der modernen Mediennutzungs- und Medienwirkungsforschung“ (Mark 1996, 102). Den von ihr grundgelegten Forschungsansatz verfolgte Lazarsfeld später in den USA intensiv weiter im Rahmen des von ihm geleiteten „Radio Research Project“ an der Universität Princeton, später Columbia. Heute ist das Forschungsgebiet ein maßgeblicher Wirtschaftszweig.

Angeregt vom Vordenker der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer (1881-1938) untersuchte das Projektteam rund um Lazarsfeld ebenfalls, welche Folgen Arbeitslosigkeit als Massenschicksal haben könnte. Das unweit von Wien gelegene Arbeiterdorf Marienthal bot sich nach Schließung einer Fabrik als Untersuchungsort an, waren doch von den 478 dort lebenden Familien ¾ von Arbeitslosenunterstützung abhängig. Die Multi-Methoden-Studie arbeitete mit Verfahren wie biographischen Interviews, Zeitverwendungsbögen, Protokollen (z.B. zu Mahlzeiten) oder Statistiken (z.B. zur Bibliotheksnutzung). Hauptergebnis ist der Befund, dass lang andauernde Arbeitslosigkeit zur Reduzierung der Aktivität, zum Zeitverfall und zur Resignation führt (Kurz 2016, 117f).

Karin Kurz, Professorin der Georg-August-Universität Göttingen, nennt drei Gründe für die bleibende Bedeutung der Marienthal-Studie:

„Erstens, ihr Vorbildcharakter in methodischer Hinsicht: Wie in kaum einer anderen empirischen Studie verwendeten die Forscher/innen viele verschiedene qualitative und quantitative Methoden, um ihre Forschungsfragen möglichst fundiert beantworten zu können. (…) Nicht umsonst ist die Marienthal-Studie in quantitativen wie qualitativen Methodenlehrbüchern auch heute noch ein vielzitiertes Beispiel für kreative und anspruchsvolle empirische Forschung. Zweitens stellt die Marienthal-Studie bis heute die einflussreichste empirische Untersuchung zu den Wirkungen von Arbeitslosigkeit dar und hat eine Fülle von Nachfolgestudien angeregt. Drittens ist die Studie ausgesprochen gut lesbar. Von Marie Jahoda fesselnd geschrieben, stellt sie einen faszinierenden Forschungsbericht dar, der auch heute noch inspiriert“ (Kurz 2016, 119).

Aufgrund der herausragenden historischen Bedeutung, die Wien als frühe Wirkungsstätte im Werk Lazarsfelds einnimmt, halten wir es für unverzichtbar, dass neben der verdienstvollen Arbeit einer Dokumentationsstelle (wie dem Paul-Lazarsfeld-Archiv der Universität Wien) auch eine eigene sozialwissenschaftliche Gesellschaft in dieser Stadt existiert, die sich um die Weiterführung und -entwicklung des Jahrhundertwerks des großen Soziologen bemüht.

Die Paul Lazarsfeld Gesellschaft für Sozialforschung (PLG) möchte in diesem Sinne einen konstruktiven Beitrag leisten.

 

 

Literatur:

Allerbeck, Klaus (2007) Paul F. Lazarsfeld. In: Kaesler, Dirk (Hg.) Klassiker der Soziologie 2. Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. Nördlingen, 7-23.

Deil, Anne (2011) Two Step Flow – Erkenntnisse Paul Lazarsfelds. Norderstedt.

Kurz, Karin (2016) Marie Jahoda et al.: Die Arbeitslosen von Marienthal. In: Salzborn, Samuel (Hg.) Klassiker der Sozialwissenschaften. 100 Schlüsselwerke im Portrait. Wiesbaden, 116-120.

Mark, Desmond (1996) Entstehungsgeschichte, kulturelles Umfeld und Rezeption der RAVAG-Studie von 1932. In: Mark, Desmond (Hg.) Paul Lazarsfelds Wiener RAVAG-Studie 1932. Der Beginn der modernen Rundfunkforschung. Wien, 75-104.

Pelinka, Anton (2016) Paul F. Lazarsfeld et al.: The People’s Choice. In: Salzborn, Samuel (Hg.) Klassiker der Sozialwissenschaften. 100 Schlüsselwerke im Portrait. Wiesbaden, 159-162.

 

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Wien, im Juli 2020

Rückfragen: Dr. Patrick Horvath, Mobil 0650/7330140, office@wiwipol.at

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